Rote Räte – ein Film von Klaus Stanjek
Am 15. März 2024 zeigte der Regisseur Klaus Stanjek seinen 2019 veröffentlichen Film “Rote Räte” im Dr. Hans-Jochen Vogel Saal des Schollheims. Organisiert wurde das Event von seinem langjährigen Freund und ehemaligem Mitbewohner aus dem Schollheim: Willi Müller-Basler. Im Gepäck hatten die beiden einen Film über die Räterepublik in Bayern und einen kleinen Einblick in das Schollheimleben vor 50 Jahren.

Der Film

Der Film zeigt in fünf Kapi­teln die Geschich­te der Münch­ner Räte­re­pu­blik von Novem­ber 1918 bis Mai 1919: Nach dem Zusam­men­bruch des deut­schen Kai­ser­reichs unter­nahm Kurt Eis­ner den Ver­such einer poli­ti­schen Neu­aus­rich­tung, der durch revo­lu­tio­nä­re Arbei­ter- und Sol­da­ten­rä­te die Schaf­fung einer sozia­lis­ti­schen Räte­re­pu­blik anstreb­te und in einer gewalt­sa­men Unter­drü­ckung durch Reichs­wehr und Frei­korps­ver­bän­de sein Ende nahm. Mit­hil­fe von sechs Zeit­zeu­gen-Inter­views aus den spä­ten 1970er Jah­ren, ergänzt durch Archiv­auf­nah­men, bie­tet der Film span­nen­de Ein­bli­cke in die Beob­ach­tun­gen eines Schrei­ners, eines Kauf­manns, eines Berufs­sol­da­ten, eines Stu­den­ten, eines Buch­bin­ders und des Schrift­stel­lers Augus­tin Souchy, der ein Freund von Gus­tav Land­au­er und Kurt Eis­ner war. So ergibt sich eine neue Per­spek­ti­ve auf die Räte­re­pu­blik, die die bis­her domi­nie­ren­de kon­ser­va­tiv-rechts­na­tio­na­le Sicht­wei­se korrigiert.

Der Regisseur

Klaus Stan­jek, am 20. Novem­ber 1948 in Wup­per­tal gebo­ren, ist ein deut­scher Doku­men­tar­film­re­gis­seur, Hoch­schul­leh­rer und Sozi­al­an­thro­po­lo­ge. Er stu­dier­te von 1968 bis 1974 Psy­cho­lo­gie und Bio­lo­gie in Müns­ter, Würz­burg und Mün­chen. In Mün­chen, wo er auch drei Jah­re lang im Geschwis­ter Scholl Wohn­heim leb­te, ent­deck­te er sei­ne Lie­be zum Doku­men­tar­film, wes­halb er nach sei­ner Dis­ser­ta­ti­on von 1979 bis 1983 an der Münch­ner Hoch­schu­le für Fern­se­hen und Film stu­dier­te. Seit­dem rea­li­sier­te er zahl­rei­che Doku­men­tar­fil­me als Regis­seur – und häu­fig auch als Pro­du­zent – zu gesell­schaft­li­chen The­men für TV, Kino und Bil­dungs­ar­beit. Zen­tra­les The­ma sind meis­tens die Kehr­sei­ten der heu­ti­gen Geld­ge­sell­schaft sowie die damit ein­her­ge­hen­de Fra­ge nach ande­ren Arten des gesell­schaft­li­chen Zusammenlebens.

Interview mit Klaus Stanjek

Ger­gö: Als Zuschau­er sehen wir im Film ein Stück erleb­te Geschich­te. Die Räte­po­li­tik in Bay­ern schei­ter­te. Hät­te die Räte­po­li­tik unter ande­ren äuße­ren Umstän­den funk­tio­nie­ren können?

Klaus Stan­jek: Also ich den­ke, die Haupt­pro­ble­ma­tik war die, dass die Bevöl­ke­rung nicht wirk­lich genü­gend wuss­te, was es bedeu­tet, sich selbst zu orga­ni­sie­ren. Sie hat nicht gelernt, Ver­ant­wor­tung für poli­ti­sches Han­deln selbst­stän­dig zu ver­tre­ten und zu über­neh­men – bis auf weni­ge Aus­nah­men. Ich glau­be, dass die Räte­idee ganz wesent­lich davon bestimmt ist, dass jeder erwach­se­ne Mensch bereit ist, in der Gesell­schaft mit­zu­den­ken und auch etwas zu die­ser bei­zu­tra­gen, indem er sei­ne Mei­nung über­denkt und dann mit­teilt, was dann wie­der­um zu einem Räte­sys­tem bei­trägt. Die Idee der Räte stammt außer­dem nicht wirk­lich aus der Sowjet­zeit, son­dern ist sehr viel älter. Es gibt also wirk­lich Erfah­run­gen, die zei­gen, dass das Prin­zip als sol­ches durch­aus funk­tio­nie­ren kann. Das setzt aber vor­aus, dass die Volks­bil­dung das vorbereitet.

Karl Paint­ner, Bank­kauf­mann, beschrieb sich als „unpo­li­tisch“, schil­dert ein­zel­ne Beobachtungen
Josef Auern­ham­mer, Hand­buch­bin­der, gläu­bi­ger Katho­lik, blieb nach dem Welt­krieg Sol­dat und dien­te anschlie­ßend in der Roten Armee, war u. a. bei der ers­ten Schlacht um Dach­au beteiligt.

Ger­gö: Ja, abso­lut, sehe ich auch so. Ich mei­ne, wenn man sich in die Men­schen zu die­ser Zeit rein­ver­setzt und so eine neue Poli­tik oder Rich­tung sieht, ist es klar, dass man erst mal auf Defen­si­ve geht und miss­trau­isch ist, was das jetzt alles ist und wie das funk­tio­nie­ren soll. Aber, wie man ja auch im Film sieht, kam das alles auch ziem­lich plötzlich.

Klaus Stan­jek: Ja, das kam ziem­lich plötz­lich und von oben. Und wäh­rend es auf dem Land natür­lich immer schon so eine Art von Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on gab, zum Bei­spiel in den dörf­li­chen Struk­tu­ren so etwas wie eine ple­bis­zi­tä­re Teil­nah­me an den Ent­schei­dun­gen, exis­tier­te die Ver­bin­dung zu die­sen Intel­lek­tu­el­len, die jetzt in Mün­chen die Räte­re­gie­rung gestar­tet haben, vor­her so nicht. Das waren intel­lek­tu­el­le Krei­se, die viel zu wenig Ver­bin­dung zu der brei­ten Bevöl­ke­rung hatten.

Ger­gö: Wer hat­te denn den grö­ße­ren Vor­teil einer sol­chen Räte­re­gie­rung? War sie im Inter­es­se des Vol­kes oder nur eini­ger weni­ger Mäch­ti­ger, zum Bei­spiel die­ser Intel­lek­tu­el­len, um dar­an anzuknüpfen. 

Klaus Stan­jek: Also ich den­ke, dass die Grund­ideen, die dort in der frü­hen Zeit der Räte­re­gie­rung ver­brei­tet wur­den, nicht im Inter­es­se der Mäch­ti­gen waren – wirk­lich nicht im Inter­es­se der Mäch­ti­gen – son­dern sie ent­stan­den auf­grund des Schre­ckens, wie viel Macht weni­ge im Land, auch im Kai­ser­reich, bekom­men konn­ten. Der Adel, die Rei­chen und die Unter­neh­mer hat­ten damals einen irr­sin­ni­gen Ein­fluss auf die Poli­tik. Das wur­de mit dem Desas­ter des räu­be­ri­schen Ers­ten Welt­kriegs, in dem die Deut­schen dann wirk­lich expan­siv unter­wegs waren, immer kla­rer. Aus die­ser Empö­rung her­aus ent­stan­den teil­wei­se die Hal­tun­gen von Erich Müh­sam, von Land­au und ande­ren. Es hat­te also schon lan­ge vor­her die Über­le­gun­gen gege­ben, dass die Gesell­schaft mehr Gleich­heit braucht. Und die­se bereits vor­her exis­tie­ren­den Idea­le der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on oder der ame­ri­ka­ni­schen Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung mit den Ideen eines gleich­be­rech­ti­ge­ren Mit­ein­an­ders dien­ten natür­lich nicht den Mäch­ti­gen, son­dern einer Mehr­heit der Bevöl­ke­rung, die nur viel­leicht davon noch nicht genug wusste.

Ger­gö: Im Film war außer­dem zu sehen, dass die Mäch­ti­gen, die zu die­ser Zeit das Sagen hat­ten, die Revo­lu­ti­on blu­tig nie­der­schla­gen und im Keim ersti­cken konnten.

Klaus Stan­jek: Genau, aller­dings war die­ser Nie­der­schlag weder klar und offen noch trans­pa­rent, son­dern erfolg­te durch gehei­me Aktio­nen, indem gro­ße Sum­men von Gel­dern an bestimm­te anti­re­vo­lu­tio­nä­re Leu­te gege­ben wur­den. Das ist inzwi­schen nach­ge­wie­sen. Es gibt vie­le knall­har­te Bele­ge, die zei­gen, dass Fir­men wie Kraus Com­pa­ny, Kaf­fee Hag oder die Waf­fen­in­dus­trie, aber auch der alte Adel in die­se Vor­gän­ge invol­viert waren. So wur­den bei­spiels­wei­se Frei­korps finan­ziert, die dazu bei­tru­gen die Räte­re­gie­run­gen in ganz Deutsch­land zu beseitigten.

Johann Haberl, Modell­schrei­ner bei Fa. Krauss, Mit­glied der „Frei­en Sozia­lis­ti­schen Jugend“, akti­ver Kämp­fer der Arbei­ter­wehr, hier an der Gie­sin­ger Gewehr­fa­brik Sedlbauer
Augus­tin Souchy, Poli­tik­wis­sen­schaft­ler, anar­chis­ti­scher Schrift­stel­ler, wäh­rend der Räte­zeit in Haft, Ver­trau­ter von Gus­tav Land­au­er und Erich Mühsam

Ger­gö: Durch die­ses blu­ti­ge Gefecht ist die Räte­re­pu­blik also geschei­tert. Kön­nen wir aus die­ser Erfah­rung heu­te noch etwas ler­nen? Was möch­test du den Zuschau­ern mit die­ser Doku­men­ta­ti­on vermitteln? 

Klaus Stan­jek: Ich den­ke, man ver­steht den Faschis­mus in Deutsch­land bes­ser, wenn man weiß, wie die­ser sich auf die Lei­chen der Räte­re­gie­rung auf­ge­sat­telt hat. Die­se Ansät­ze, die teil­wei­se wirk­lich basis­de­mo­kra­tisch waren, wur­den in der spä­te­ren Pro­pa­gan­da völ­lig falsch dar­ge­stellt. Gera­de in Bay­ern ging es auch vie­le Jahr­zehn­te noch so wei­ter. Man darf heu­te kaum noch sagen, dass dort avant­gar­dis­ti­sche, eman­zi­pa­to­ri­sche Ansät­ze ver­tre­ten waren, wie zum Bei­spiel beim Baye­ri­schen Fern­se­hen oder beim Haus der Baye­ri­schen Geschich­te. Da wird ganz klar der Gedan­ke wei­ter­ge­führt, den die Nazis mit mas­si­ver Pro­pa­gan­da durch das Bezeich­nen der Revo­lu­tio­nis­ten als „Novem­ber­ver­bre­cher” oder durch die Dolch­stoß­le­gen­de ver­brei­tet haben. Kurt Eis­ner hat­te sich hier zum Bei­spiel für eine Ent­schul­di­gung der Deut­schen bei den spä­te­ren Frie­dens­ver­hand­lun­gen nach dem Ers­ten Welt­krieg ein­ge­setzt, was bei den rech­ten Mili­tärs Empö­rung aus­ge­löst hat.  Ins­ge­samt wur­de so also von den Nazis ganz sys­te­ma­tisch ein Feind­bild auf­ge­baut, was nicht wirk­lich ange­mes­sen war, son­dern Geschichts­ver­fäl­schung. Zum Bei­spiel der Rote Ter­ror, der auch im Film erwähnt wur­de, war im Gegen­satz zu sei­ner Gegen­be­we­gung, dem Wei­ßen Ter­ror, weit­aus weni­ger bru­tal. So ent­stand eine ver­fälsch­te Wahr­neh­mung. Und aus die­ser ver­fälsch­ten Hal­tung her­aus sind bis heu­te vie­le Men­schen hier im Süden der Mei­nung, das war damals sowie­so eine furcht­ba­re Zeit und haben das Wach­sen von Demo­kra­tie gar nicht wahr­ge­nom­men. Pro­pa­gan­da muss man daher wirk­lich immer wie­der in Fra­ge stel­len, heu­te genau­so wie früher.

Ger­gö: Abso­lut. Durch den Film hat man gese­hen, wie gut Pro­pa­gan­da in die­ser Zeit funk­tio­niert hat. Auch heut­zu­ta­ge erreicht man durch Popu­lis­mus und das Ver­brei­ten ähn­li­cher Gedan­ken vie­le Leu­te. Und auch wenn vie­les, das ver­brei­tet wird, nicht stimmt, wird vie­les davon auf den Ängs­ten und Emo­tio­nen der Men­schen auf­ge­baut. Damit kann man vie­le Men­schen zum Han­deln brin­gen und auch zu schreck­li­chen Din­gen bewegen.

Klaus Stan­jek: Ja, das ist eine der Bot­schaf­ten, die ich ver­mit­teln möchte.

Ger­gö: Mit Zeit­zeu­gen­be­rich­ten kann Geschich­te doku­men­tiert und für den Zuschau­er leb­haf­ter gestal­tet wer­den. Gleich­zei­tig kön­nen sie aber auch sehr wich­tig sein, um das Erleb­te und die dama­li­gen Gescheh­nis­se bes­ser zu ver­ar­bei­ten. Nur lei­der gibt es kaum noch leben­de Zeu­gen, die über die Zeit der Roten Räte berich­ten kön­nen. Des­halb ist es umso wich­ti­ger, die­sen Teil der Geschich­te irgend­wie zu erhal­ten. Was hat dich denn kon­kret dazu bewegt, die­sen Film zu dre­hen und die­se Auf­nah­men zu machen?

Otto von Ramd­ohr, im Welt­krieg Offi­zier des Gene­ral­sta­bes, nach dem Krieg Abitu­ri­ent, Roya­list, Mit­glied im Frei­korps / Husarenregiment
Wil­helm Hager, Medi­zin­stu­dent in der Räte­zeit, Mit­grün­der der „Grup­pe sozia­lis­ti­scher Aka­de­mi­ker“, aktiv an Gus­tav Land­au­ers Hoch­schul­re­form beteiligt

Klaus Stan­jek: Ich bin als Fil­me­ma­cher ja der Mei­nung, dass – auch wenn vie­les schon in Büchern, Auf­sät­zen, Arti­keln oder Ähn­li­chem geschrie­ben steht oder auch im Radio zu hören ist – dass der Ein­druck, der durch etwas fil­misch gemach­tes ent­steht, sehr viel stär­ker sein kann. Also ist die­ser Film ein Mit­tel, um demo­kra­ti­sche Ansät­ze bewusst zu machen und so zu ver­tei­di­gen, dass es leben­dig und anschau­lich wird. Das ist eine Eigen­schaft, die der Film bes­ser umset­zen kann als ande­re Medi­en. Das ist ein Grund, wes­halb ich das gemacht habe.

Ger­gö: Hat es einen bestimm­ten Grund, wes­halb dir das The­ma mit den Roten Räten so am Her­zen liegt? Was war dein kon­kre­ter Leitgedanke?

Klaus Stan­jek: Ich hat­te mich mit dem Räte­ge­dan­ken schon län­ger beschäf­tigt. Genau­er gesagt, mit einer ortho­do­xen christ­li­chen Rich­tung, die man Früh­so­zia­lis­ten nennt. Das sind die hut­teri­schen Brü­der, die sind nicht sehr bekannt. Die hut­teri­schen Brü­der sind in der Refor­ma­ti­ons­zeit, also vor 500 Jah­ren, zu dem radi­kals­ten Flü­gel gewor­den, der damals gegen die sehr eta­blier­te katho­li­sche Kir­che ange­tre­ten ist. Sie waren Revo­lu­tio­nä­re, die eine Räte­or­ga­ni­sa­ti­on eta­bliert haben, die bis heu­te in Kana­da und den USA funk­tio­niert. Das sind ca. 50.000 Men­schen, die einen Spre­cher wäh­len und dezen­tral orga­ni­siert sind. Und ich dach­te das ist eine wich­ti­ge Sache. Auch wenn man das zwar nicht kurz­fris­tig ein­füh­ren kann, ist es den­noch eine Per­spek­ti­ve, die zeigt, dass eine Demo­kra­tie durch­aus auch in einem weit­aus weni­ger hier­ar­chi­schen Sys­tem mög­lich ist, in dem die Men­schen ein­an­der gegen­über­ste­hen und nicht von oben nach unten und von unten nach oben schauen.

Ger­gö: Man begeg­net sich auf Augen­hö­he sozusagen.

Klaus Stan­jek: Genau. Das ist eine alte Sehn­sucht von mir und dafür mache ich auch Filme.

Ger­gö: Wie ist denn damals der Arbeits­pro­zess abge­lau­fen? Habt ihr ein­fach gesagt okay das ist jetzt unser The­ma, euch Leu­te gesucht und ein­fach drauf los gefilmt?

Klaus Stan­jek: Kann man so sagen. Wirk­lich ein­fach los­lau­fen. In die­ser Zeit gab es ja zum ers­ten Mal so klei­ne mobi­le trag­ba­re Video­ge­rä­te, bei denen das Video­band ein Magnet­band war. Die wur­den im Bil­dungs­be­reich benutzt, um Augen­zeu­gen-Stra­ßen- Inter­views und sozia­le Ein­schät­zun­gen  zu machen. Es ging uns also erst mal nur dar­um, etwas zu sichern. Wir hat­ten noch kei­ner­lei Vor­stel­lung davon, dass unse­re Auf­nah­men ein Film sein könn­ten. Ich habe erst spä­ter Film an der Münch­ner Film­hoch­schu­le stu­diert. So sind dann auch Ende 1979 die letz­ten Auf­nah­men ent­stan­den. Ab dann habe ich mich mit Fil­me­ma­chen beschäf­tigt. Spä­ter wur­de es also immer mehr zu mei­ner Lebens­auf­ga­be, dass ich mit Fil­men Mit­tei­lun­gen mache, in einer gewis­sen Inten­si­tät, die man ansons­ten nicht so leicht her­stel­len kann. Und ich dach­te das ist ein gutes The­ma, ers­tens weil ich mich das dezen­tra­le Räte­sys­tem inter­es­siert und zwei­tens, weil ich Zugang zu die­sen Auf­nah­men habe und da was lie­fern kann, was ande­re nicht lie­fern kön­nen. Das ist auch immer ein Motiv. 

Ger­gö: Noch eine etwas ande­re Fra­ge: Wann hast du genau im Scholl­heim gewohnt und auf wel­chem Flur hast du damals gewohnt?

Klaus Stan­jek: Das war von 1973 bis 1976 und das muss wohl der drit­te Stock links gewe­sen sein. Da war eine Atmo­sphä­re, die ich bis heu­te beson­ders schät­ze – wenn man da drin ist, dann merkt man das oft nicht so genau wie beson­ders das ist – Ja, das war eine frei­heit­li­che offe­ne Atmo­sphä­re, wo man eben nicht nur abends zusam­men saß und Quatsch mach­te, son­dern auch in Arbeits­grup­pen und mit Tuto­ren­pro­gramm so über die Zeit nachdachte.

Klaus Stan­jek, 1975 – Foto G. Heilberger
Film­ak­ti­on eini­ger Schol­lis, 1975 – Klaus Stan­jek ganz links

Ger­gö: Also hat­te dei­ne Zeit im Scholl­heim auch Aus­wir­kun­gen auf dein spä­te­res Schaffen?

Klaus Stan­jek: Ganz bestimmt. Ich war vor­her nicht wirk­lich ein poli­ti­scher Mensch. Ich habe ab 1967 Abi gemacht, bin also genau in die Zeit rein gerutscht als die gan­zen Auf­re­gun­gen pas­siert sind, von denen ich frü­her nichts kapiert habe. Ich dach­te, was reden die da von ande­ren Wel­ten und so. Wenn man dann in der Uni ist, ist da eine gro­ße Mas­se von Men­schen, die alles bes­ser wis­sen und man hat lan­ge nicht den Zusam­men­hang wie in einem Wohn­heim. Das ist so fin­de ich, wie wenn du in einer Fir­ma arbei­test, dann siehst du die tags­über beim Arbei­ten, aber nicht abends am Bier­tisch oder so, wenn du ent­spannt redest und das dann über län­ge­re Zeit. Das ist ein Humus, auf dem ganz schön was wach­sen kann.

Ger­gö: Auf jeden Fall. Das ist echt eine ein­zig­ar­ti­ge Mög­lich­keit für vie­le Gesprä­che, für einen gro­ßen Aus­tausch und das gibt viel zu ler­nen, in vie­len ver­schie­de­nen Bereichen.

Wie fühlt es sich denn jetzt an, nach so vie­len Jah­ren – nach 50 Jah­ren – als erfolg­rei­cher kul­tur­schaf­fen­der Fil­me­ma­cher wie­der hier in Mün­chen im Scholl­heim zu sein?

Klaus Stan­jek: Anrüh­rend. Also es wühlt mich rich­tig auf, muss ich sagen. Vor allem, du hast ja mit­ge­kriegt, dass hier auch mei­ne ers­ten Fil­me­ver­su­che mit Mit­be­woh­nern und mei­ner Kur­bel­ka­me­ra, ein­fach so drauf los, pas­siert sind. Ich bin jetzt 75 Jah­re alt und wenn ich so zurück­bli­cke auf mein Leben, dann den­ke ich, das war hier wie ein frucht­ba­rer Boden für Schät­ze, die zwar in jedem von uns schlum­mern, aber von denen vie­le doch nicht auf­blü­hen, weil die Situa­ti­on dann nicht geeig­net ist. Und hier im Scholl­heim war das aber so. Ich habe hier ganz viel gelernt.

Wil­li Mül­ler-Bas­ler: Wenn ich mich ein­mi­schen darf, das ist das, was ich immer sage: erst mit zuneh­men­dem Alter merkt man, was das Scholl­heim für einen Ein­fluss auf einen hat­te. Und es wird immer kla­rer, wel­che Aus­wir­kun­gen die Sozia­li­sa­ti­on, die man hier erfah­ren hat, beruf­lich und gesell­schaft­lich hat­te. Bei mir war es so, ich habe eine Leh­re gemacht und bin über den zwei­ten Bil­dungs­weg ins Scholl­heim gekom­men. Dass ich über­haupt hier rein­ge­kom­men bin war eher Zufall. Das heißt ich habe eine ganz ande­re Sicht und ich habe aber genau­so unheim­lich was gelernt. Aber die Erkennt­nis, was man gelernt hat und wel­chen Impact das eigent­lich hat­te, das stellt man erst 30, 40 Jah­re spä­ter fest. 

Wil­li Mül­ler-Bas­ler und Klaus Stanjek
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